Erzählt von Dr Nils Henja Redenius

Die eigenen sportlichen Ambitionen auf Zweirädern lagen weit zurück und wurden Anfang der Neunziger auf dicken MTB Reifen ausgelebt. Die Rahmen damals waren in der Regel aus unverwüstlichem Columbusrohr gefertigt, weitgehend ungefedert, da die wenigen verfügbaren Federgabeln unbezahlbar waren. Zudem hatten sie erst wenige Jahre zuvor den Weg in die Serienproduktion gefunden, nachdem Gary Fisher auf die Idee gekommen war, Schaltungen an die Beachcruiser zu schrauben, mit denen sie im kalifornischen Hinterland die Hänge runtergebrettert sind. Unser Händler des Vertrauens, Radsport Lindemeyer, im beschaulichen Liekwegen am Fuße des niedersächsischen Bückeberges gelegen, stattete unsere Räder nach und nach mit besseren Komponenten aus, wenn das Budget mal nicht vollständig für Schallplatten, Zigaretten und Konzertkarten draufgegangen war. Mein Freund Rüdiger hat sogar mal seine neue Gabel durch Rasenmähen abgestottert. Doch Wolfgang, der Inhaber, von uns nur „Lindi“ genannt, war kein Mountainbiker, sondern Rennradfahrer. In der Rückschau weiß ich gar nicht genau, wie umfangreich seine Erfolge im Amateurbereich waren. Allerdings hat er viel trainiert und wenn im Fernsehen Radsport übertragen wurde, dann saß er in der benachbarten Wohnung seiner Mutter. Über die Frage, ob dies dem Geschäft zuträglich war haben wir nicht nachgedacht. Für uns bedeutete es nur wiederkommen, oder bei Rosinenstuten und Nutella mitgucken; zweiteres eindeutig die attraktivere Variante. Es war die Zeit, als Miguel Indurain seine Gegner unerbittlich zermürbte, gefühlt nie aus dem Sattel ging und vermutlich der beste Zeitfahrer der Welt war. So wurden wir alle Rennradfans, ohne dabei vom Mountainbike umzusteigen. Die Banesto und Castorama Trikots wurden sogar phasenweise genauso in der Diskothek getragen, wie die Radkappe von Sachs zum Modeaccesoire wurde, bis Schweißränder sie leider untragbar werden ließen. Wir fachsimpelten über Campagnolo, Sachs (die gab es noch) und Shimano, träumten von Rock Shockx und Manitou und hörten „Lindi“ zu, wenn er über Francesco Moser und Bernard Hinault referierte. Zuhause schraubten wir an Rädern herum; die anderen meist erfolgreicher als es mir meine zehn linken Daumen gestatteten.  Meine Fernseherinnerung an das Herzschlagfinale zwischen Laurent Fignon und Greg Lemond wenige Jahre zuvor verklärte sich zu einer Initialzündung…mit Fehlstart. Im Nachhinein bleibt es nämlich unerklärlich, warum keiner aus der Clique sofort den fahrbaren Untersatz tauschte, und warum es vor allem bei mir fündundzwanzig Jahre dauern sollte, bis ich mich endlich auf ein Rennrad setzte.  

Im Sommer 2017 folgte ich der Einladung meines Freundes Ralf, ihn zum Grand Départ nach Düsseldorf zu begleiten und abends das Kraftwerkkonzert vor dem NRW Forum zu besuchen. Trotz Regenwetters standen wir zeitig an der Strecke, wie sich später herausstellen sollte an einem mehr als neuralgischen Punkt: der Kurve an der Ausfahrt der langgezogenen Rheinkniebrücke. Gespannt erwarteten wir das Zeitfahren. Die Fahrer waren schon auf der Strecke, um sich warm zu fahren, vielleicht auch in der Hoffnung, diese trocken zu legen? Ich  lernte einiges dazu über die Funktionen von elektronischen Schaltungen, die neueste Carbontechnik, Wattzahlen und CW Werte. Allerdings scheint mein Radsportgedächtnis besser geeignet zu sein, sich an Namen, Trikotfarben, Sieglisten sowie Mythen zu erinnern. Diese prägen sich mir irgendwie immer schon besser ein. Geschichten über Federico Bahamontes, der auf dem Berg wartete, um nicht alleine abfahren zu müssen, Udo Bölts Motivationsspritze für Jan Ulrich: „Quäl Dich, Du Sau!,“ Mythen über Schicksalsberge wie den Galibier, den Mont Ventoux, oder das Einzelzeitfahren in Alpe D’Huez haben sich mir genauso eingeprägt, wie die Namen der der legendären Frühjahrsklassiker. An der Strecke stehend, den Regen mit vielen anderen Radsportfans einfach ignorierend, spürte ich diese Faszination. Erst rollte die Werbekarawane an uns vorbei mit an Karneval erinnernden Gefährten. Diese wirkten in der Karnevalshochburg am Rhein genau richtig. 

Musik brandete immer wieder auf, Jubel in der Menge, Blaulicht der deutschen und französischen Streifenwagen, die in einmütiger Amour fou über die Strecke fuhren.

Zwar waren die „Kamelle,“ keine tollen Teamkappen oder Bidons, die sich gut in der Sammlung der Radsport-devotionalen gemacht hätten, sondern lediglich Stifte und Schlüsselanhänger, aber der Stimmung war das nicht abträglich. Irgendwann kamen auch endlich die ersten Fahrer, die den Kampf gegen die Uhr aufgenommen hatten, jeweils eskortiert von zwei Polizeimotorrädern sowie einem Teamwagen. Während wir wie Kinder, die über dem WM Spielplan hocken, am Handy zu ermitteln versuchten, wann denn die Topfahrer an uns vorbeisausen würden, entwickelte sich ein Spannungsbogen, wie William Shakespeare persönlich ihn nicht tragischer hätte entwerfen können. Die Fahrbahn mit den vielen weißen Markierungen die von der Brücke kommend zur Kö, Düsseldorfs berühmte Flaniermeile, hinbiegt, verwandelte sich aufgrund des immer wieder aufkommenden Regens in eine seifennasse Rutschbahn, die ihren Tribut forderte. Nachdem die ersten Fahrer gestürzt waren, rutschte auch ein Motorrad in der Kurve weg und drückte mit großer Geschwindigkeit die am Rande stehenden Metallbalustraden zur Seite. Menschen sprangen überrascht zur Seite. Und so nahte mit jedem Fahrer, der mit Höchsttempo von der Brücke hinab schoss die Sorge, ob diese die Kurve wohl unbeschadet nehmen würde. Vielen war die Sorge anzusehen, gedrosseltes Tempo, aufrechte Körperhaltung, aufmerksamer Blick. Peter Sagan sauste vorbei, ebenfalls Vincenzo Nibali, Nairo Quintana, Chris Froome, zierliche Fahrer aus Ecuador, Sprintspezialisten mit unbeschreiblichen Klötzen an den Beinen, wo Normalsterbliche ihre Waden haben. Irgendwann tauchte dann ein weiterer Fahrer am Ende der Brücke auf, der sehr schnell näherkam. Ein Blick auf den Startplan kündigte einen Topfavoriten an: Alejandro Valverde vom spanischen Team Movistar. In Sekunden verstand die Menge, dass das unfassbare Tempo, deutlich schneller als alle anderen Fahrer vor ihm, zum Verderben werden musste. Trotz wildem Gestikulieren der Menge, Rufe in verschiedenen Sprachen („Slow down,“ „Ralentir,“ „Langsam,“ „Lento“) fuhr Valverde ungezügelt die Brücke hinab, nur die Bestzeit im Blick … und kam zu Fall, in unerträglich hoher Geschwindigkeit rutsche er in die Metallgitter und über die Bordsteinkante, um neben der Strecke liegen zu bleiben. Die Zeit bis zum Eintreffen des Krankenwagens schien unendlich lang. Es war klar, dass für Valverde die Tour zu Ende war, bevor sie richtig begonnen hatte. Ein Traum zerschellte genauso wie seine Kniescheibe am Stahl.

Schrecklich….umso schöner zu wissen, dass er zurück ist. Und wie! Radsportfans werden ihn gesehen haben, wie er die Höttinger Höll in Innsbruck bei der Straßen WM 2018 hinaufflog und den anschließenden Sprint in die Tiroler Alpenmetropole von vorne gegen einen enttäuschten Romain Bardet gewann. 

Trotz, oder doch gerade wegen dieses aufregenden Moments, hatte der Radsport mich wieder in seinen Fängen. Die surrenden Reifen auf dem Asphalt, das majestätische Rollen des Freilaufs, das Knacken der elektronischen Schaltungen und Sirren der Carbonfelgen beim Bremsen, die schönen Trikots, allen voran Peter Sagans Regenbogentrikot, das Kurbeln der Beine wie Maschinen. Dazu die Mannschaftswagen in Teamlackierung, die mit quietschenden Reifen und traumhaften Rennmaschinen auf dem Dach ihren Fahrern hinterhereilten. Abgerundet durch ein beeindruckend lautes Konzert der deutschen Elektronik Pioniere auf dem Platz vor dem NRW Forum endete der Grand Départ spät in der Nacht. 

Es sollte noch ein Jahr, Probefahrten mit geliehenen Rennrädern in Griechenland und am Niederrhein (welche Dichotomie), langes Überlegen und Vergleichen dauern, bis zum eigenen Rad. Und so war der Grand Départ auch mein Start, bzw. mein persönliches Schließen eines Kreises, der vor vielen Jahren in einer winzigen Küche hinter einer kleinen Fahrradwerkstatt begann. 

5/5