Böse Zungen behaupten unser Nachbarland Belgien sei lediglich ein Transitland mit beleuchteter Autobahn, deren Asphalt nur die Vorliebe der Straßenbauer für Kopfsteinpflaster repräsentieren würde. In einem guten Moment gesteht man den Belgiern vielleicht noch zu, dass Sie die Pommes Frites erfunden haben und leckere Schokolade machen. Aber das war es dann auch.
Für Comicliebhaber und Radsportfans ist Belgien jedoch so etwas wie der Nabel der Welt. Belgien ist Schauplatz vieler berühmter Eintagesrennen. Neben dem Fleche Walonne und Gent-Wevelgem gehören Lüttich-Bastogne-Lüttich und die Flandernrundfahrt zu den sogenannten Monumenten des Radsports. Die Liste der erfolgreichen Radsportler in Belgien ist lang. Über allem thront sicher Eddy Merckx, der mit seinen über 500 siegreich bestrittenen Rennen zweifellos der größte Radsportler aller Zeiten ist. Doch auch daneben ist die Liste der legendären belgischen Fahrer lang. Für Radsportfans klingen Namen wie Rik van Loy, Roger de Vlaeminck, Tom Boonen, Johan Museeuw und in jüngster Zeit Greg van Avermaet wie das wunderbaren Summen eines zwanzig Millimeter breiten Reifens auf Asphalt, sie erinnern an Schweiß und Tränen, Staub und Dreck, Leid und Erfüllung. Daneben laden die Namen der Handlungsorte dieser Könige der Athleten zum Träumen ein. Die Mauern von Huy und Geraardsbergen, der Koppenberg und der Oude Kwaaremont sind gleichbedeutend mit Pein und Kampf und stehen auf einer

Stufe mit dem Wembleystadion oder dem Maracana. 
Ein kleiner Beitrag über den Koppenberg auf der Webseite des zwar umstrittenen, wie ich finde jedoch trotzdem sensationellen, Radsportausstatters Rapha verleitete mich dazu, mehr über den Koppenberg und die Flandernrundfahrt in Erfahrung zu bringen. Youtube hält eine Menge interessanter Videos über diesen zwar kurzen, jedoch nicht minder legendären Anstieg bereit. Man kann sich Jesper Skibbys Unfall von 1987 genauso ansehen, wie eine dezidierte Beschreibung des Koppenbergs durch die englischen Rennradliebhaber von CGN. Während ich mir die Kurzfilme ansah und Artikel über die Flandernrundfahrt las, fragte ich mich, warum ich nicht einfach das Rad einpacke und da mal hinfahre. Gesagt getan. Mittels einer Onlineplattform mietete ich für eine Nacht ein günstiges Zimmer in der Nähe von Oudenarde, dem Epizentrum der Flandernrundfahrt. Dass die Brasserie D’Hoppe seit einigen Jahren die Techniker des Teams Katusha Alpecin beherbergt, wusste ich da noch nicht, war aber ein passender Zufall. 

Man erreicht die kleine Stadt Oudenarde, im Süden von Gent gelegen, über die E34 von Antwerpen Richtung Frankreich. Mitten im Zentrum der Stadt prägen drei Gebäude das Bild. Ein typisch flämisches Rathaus, eine große Kirche und das Museum zur Ronde van Vlaanderen. Ein herrlich erhaltener Volvo in klassischer Moltenilackierung lädt zum Näherkommen ein. Während das Erdgeschoss den unvermeidlichen Shop mit vielen Trikots, Büchern und anderen Devotionalien sowie ein Radsportcafé und einen Rennradverleih bereithält, findet man im Kellergeschoß ein sehr liebevoll gestaltetes Museum über die Flandernrundfahrt. Zunächst passiert man einen Bereich, der die historische Entwicklung des Radsports präsentiert. 

Mehrere in verschiedenen Sprachen verfügbaren Audioguides blicken auch über den sprichwörtlichen Tellerrand in die europäischen Nachbarländer. An drei Stationen lässt sich mittels Virtual Reality Brillen ganz tief in die Vergangenheit des Radsports eintauchen. Daneben gibt es einen wunderschönen roten Flandria Mannschaftswagen, eine Sammlung von weggeworfenen Bidons, Helme, Trikots, und natürlich Siegerräder, wie das Gitane von Tom Simpson, ein orangenes Eddy Merckx oder eine traumhafte Rennmaschine von Specialized, die Tom Boonen zum Sieg getragen hat. 

Nach einem ausgiebigen, überraschenderweise eher schweizerisch angehauchten, Abendessen in der Brasserie und einem erholsamen Schlaf, verließ ich bei kühlen vier Grad, mit einem neu erworbenen analogen Plan der drei Routen rund um Oudenarde (mehr an Technik und Effizienz orientierte Fahrerinnen und Fahrer können natürlich ihren Garmin oder Wahoo nutzen) sowie vielen guten Ratschlägen meiner unfassbar netten Gastwirtin die Brasserie und radelte zunächst dem Muzikbos entgegen. Schnell lernte ich Jacques Brels Aussage, Flandern habe Kathedralen anstelle von Bergen (Mijn Vlanderland) anzuzweifeln, denn der Kanariberg, den ich nach wenigen Kilometern auf einer größeren Landstraße erreichte, forderte mich gleich mal heraus. Dieser erste giftige Anstieg auf einen der vielen bewaldeten Hügel ließ meinen Puls das erste mal an diesem Tag mächtig nach oben schnellen und die noch kühlen Temperaturen vergessen. Danach konnte ich einfach der guten Beschilderung der blauen Ronde (ich hatte mir eine Kombination aus zwei Routen ausgesucht, da ich neben Koppenberg und dem Oude Kwaaremont unbedingt auch nach Geraardsbergen wollte). In Ronse, Schauplatz der Straßenrad WM 1988, lernte ich zwei ältere Herren kennen, die, in gutem Deutsch, nicht müde wurden, die Heldentaten der letzten 50 Jahre zu preisen und mich anschließend den Kruisberg hinaufzuschicken.

Nachdem ich Kluisbergen erreicht und mich vom Oude Kwaaremont kräftig hatte durchschütteln lassen, näherte ich mich dem Paterberg. Zwar gelang es mir, im Sattel zu bleiben, aber ansonsten hatte meine Performanz an dieser Steigung nichts mit Peter Sagans entscheidender Attacke von 2016 zu tun. Mit brennenden Oberschenkeln erreichte ich den „Gipfel“ dieser Steigung nur um kurze Zeit später den Koppenberg in Angriff zu nehmen. Spätestens jetzt bekam ich ein Gefühl dafür, welche Achterbahnfahrt die Flandernrundfahrt für die Profis sein muss. Ein ständiges Auf und Ab; „bergs und cobbles.“ Mit einer Steigung von über zwanzig Grad im Mittelteil und gnadenlosem Kopfsteinpflaster ist der Koppenberg ein Gradmesser für jeden halbwegs ambi-tionierten Sportler. Den dicken Gang zu treten gelang mir genauso wenig, wie im Sattel zu bleiben. Allerdings blieb mir die Höchststrafe, abzusteigen, erspart. Anders als andere Hobbyradfahrer, die den Berg per pedes erklimmen mussten, quälte ich mich bis oben und katapultierte meine Herzfrequenz jenseits der 180. Für diese Anstrengung wird man mit einer schönen Abfahrt hinunter nach Oudenarde belohnt, von wo ich mich auf die rote Ronde begab zum letzten Höhepunkt meiner ca. 90km langen Ausfahrt. In Geraardsbergen passiert man zunächst eine Eisenbahnbrücke und dann führt der Weg durch eine Geschäftsstraße hinauf zum Markplatz wo oberhalb die berühmte Muur von Geraardsbergen mit einer weiteren knackigen Steigung hinauf zu einer kleinen Kappelle wartet von der man das wunderschöne Flanderland mit seinen Hellingen und Eichengründen weit überblicken kann. Zurück am Markplatz erwartet den Radsportafficionado im Café Gidon neben einer leckeren Tasse Kaffee eine traumhafte Sammlung von Rennradtrikots. Von Geraardsbergen radelte ich die letzten Kilometer, unterbrochen von weiteren Hügeln und Kopfsteinpflaster Passagen zurück zum Auto und der Heimfahrt. 

Ich werde wiederkommen. Allen anderen begeisterten Radsportlerinnen und Radsportlern sei das Flanderland sehr empfohlen. In Verbindung mit einem Shopping- oder Museumstrip nach Antwerpen, Gent oder Brügge bietet Belgien unfassbar mehr als nur eine beleuchtete Autobahn.