Nachdem ich mich, in meiner ahnungslosen Naivität, die unter anderem dazu geführt hatte, dass ich bei einer RTF im Spätsommer 2018 in Büttgen eine Performance hingelegt hatte, die man wohlwollend vielleicht noch mit dem Titel „Hungerast 4.0“ beschreiben kann und zum berechtigten Spott meiner Radsportfreunde vom Niederrhein führte, trotzdem für das Frühjahr nicht nur zu meiner ersten Tour über 150km angemeldet hatte, sondern dies auch bei einem der weltweit berüchtigtsten Klassiker, der Roubaix Challenge (den Bericht darüber findet Ihr ebenfalls auf dieser Webseite), kamen mir zu Beginn des Winters leichte Zweifel, ob die Form reichen würde. Vor dem Kopfsteinpflaster hatte ich keine Angst, da ich bereits in Flandern unterwegs war, nicht ahnend, dass zwischen der Beschaffenheit der flämischen „kinderkopjes“ und dem Pavé in Frankreichs Norden ein himmelweiter Unterschied bestand. Was mich aber mehr beschäftigte, war die Frage, wie es sich wohl anfühlte 150km zu fahren. Das Team von GCN hat ein nettes Video zur Vorbereitung auf einen 100 Meilen Ritt parat, aber irgendwie hatte ich den starken Wunsch eine Strecke zu finden, die mir eine wirkliche Vorbereitung für den großen Tag in der Hölle des Nordens sein könnte. Zufällig fand ich im Internet einen Hinweis auf RTF-artige Veranstaltungen in den Nachbarländern. Die Proximus Cycling Challenge in Belgien bot am 16.03.2019 eine Fahrt mit dem schönen Namen „Omloop van Vlaanderen,“ nicht zu verwechseln mit dem Halbklassiker „Omloop het Niewsblad.“ 149km sollte die Strecke lang sein und etliche Kopfsteinpflasterpassagen bereithalten, die auch längenmäßig mit einigen Sektoren in Roubaix mithalten können. Für einen Startpreis von knapp 20 € meldete ich mich an, und hatte sogar die Möglichkeit mit dem Wohnmobil eines Freundes schon am Freitagabend anreisen zu können, um ausgeschlafen an den Start in Gent gehen zu können. Am Vortag der Veranstaltung packte ich meine Sachen, die von Seiten der Kinder recht lakonisch kommentiert wurden: „Papa, machst Du ein Überlebenstraining, oder einen Selbstfindungskurs für Männer in der Midlife-Crisis.“ Wahrscheinlich hatte ich zu viele unterschiedliche Klamotten eingepackt, wollte aber angesichts der Sturmwarnung in Belgien auf alles vorbereitet sein. Mit sportlichen 85km/h, mehr fuhr der zwar weitgereiste, aber auch schon betagte Fiat bei Gegenwind nicht, ruckelte ich dem Nachbarland entgegen. Der Regen peitschte auf die Windschutzscheibe und jedes Mal, wenn ein LKW überholte, hatte ich das Gefühl, der Wagen läge gleich im Graben. Nach knapp vier Stunden erreichte ich das Stadion in Gent, an welchem Start und Zielort sein sollte. Der ausgewiesene Parkplatz entpuppte sich als riesige Betonfläche umrahmt vom Stadion des Genter Erstligisten KAA Gent, einem modernen Bürokomplex und eines Baumarktes. Hier wollte ich also übernachten…. Abends um halb zehn war ich das einzige Auto, dass dort stand. Nun gut. Ich aß eine Kleinigkeit, verriegelte alle Türen und kuschelte mich mit einem Buch in den Alkoven. Just als ich das Licht gelöscht hatte, brach der Regen wieder los. Die Hoffnung, durch eine Anfahrt am Vortag ausgeruht an den Start gehen zu können, erfüllte sich leider nicht, da der Sturm die ganze Nacht am Wohnmobil rüttelte. Die Raserei des Wetters schien nicht enden zu wollen. „Willkommen im Herzland der Frühjahrsklassiker“ durchschoss es mich. Irgendwann fiel ich dann doch in einen unruhigen Schlaf, der vom Wecker gegen sechs beendet wurde. Steif und müde bereitete ich mir Portion Porridge vor und zwängte mich in meine Radklamotten.
Tatsächlich kamen trotz des dunkel grauen Himmels und eines unvermindert starken Windes ein Auto nach dem anderen auf den Platz gefahren und bestens gelaunte Belgier bestiegen Ihre Räder. Die Registrierung am Start direkt neben der Ghelamco Arena erfolgte per QR Code und schon ging es los. In einem Tross von mehr als vierzig Fahrern ging es zunächst an der Schelde entlang. Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Untergrund war schlüpfrig, nass und matschig. Mein Nachbar begründete mit den Gegebenheiten und den anstehenden Höhenmetern (1500), dass das Tempo bei moderaten 27km/h lag. „If it was sunny, they’d be going forty.“ Ich schluckte etwas, in Sorge, die Veranstaltung könnte doch etwas zu ambitioniert sein. Aber eigentlich lief es die ersten 15km recht gut und ich fühlte mich zunehmend wohler. Doch plötzlich rutsche mir das Hinterrad in einer Kurve weg und ich hatte meinen ersten Platten. Nachdem ich einen Nagel entfernt, den Plattfuß geflickt hatte und Anschluss zu einer neuen Fahrergruppe gefunden hatte, dauerte es aber leider nur wenige Kilometer bis zur nächsten Panne. Der Reifen war geplatzt. Direkt am Einstieg zur langen Munte, einer der vielzähligen Anstiege des Tages, die im Übrigen alle per Schild angezeigt wurden, machte ich mich erneut daran, den Reifen zu flicken. Meine Zuversicht begann zu schwinden, als mir beim Aufpumpen ein Riss im Mantel auffiel. Nach einem Telefonat mit dem Directeur Sportif im heimischen Deutschland versuchte ich mittels meines Prüfausweises für das deutsche Sportabzeichen, eine scheckkartengroße und weich laminierte Karte, die ich zwischen Mantel und Schlauch schob, das Loch zu flicken. Leider hielt das Ganze nur einen knappen Kilometer bis die Luft wieder entwich. Angesichts der nahen Verpflegungsstation machte ich mich zu Fuß auf, um zu sehen, ob ich dort einen neuen Mantel erwerben könnte. Nach wenigen Schritten hielt ein Wagen neben mir. Der „Pechdienst“ eskortierte mich zur Verpflegungsstation, wo man tatsächlich Material erwerben konnte und so war ich endlich wieder fahrbereit und hatte immer noch über hundert Kilometer vor mir. Spätestens an der Streckenteilung 112km und 149km wurde mir klar, dass der Rest des Tages wohl einsam würde. Wurde er aber nicht, denn ich kam mit einem anderen Fahrer ins Gespräch, der erst nach neun auf die Strecke gegangen war. Dominique war ein netter Belgier – wie sich raus stellte ein richtiger Freak, der im Sommer sogar die Tour de France abfahren wolle (was er auch geschafft hat) – und ebenso froh war jemanden zu fortgeschrittener Zeit gefunden zu haben, mit dem er ein Gruppetto bilden konnte. Und so trotzten wir Wind und Kopfsteinpflaster. Wir bezwangen Molenberg und Taaienberg, Greg van Avermaets Lieblingsanstieg, Berendries, und ließen uns sowohl von der Paddestraat als auch der Lippenhovestraat ordentlich durchschütteln, hatten Zeit für viele Gespräche und kamen am Ende beide zufrieden wieder in Gent an, wo wir uns bei einem gemeinsamen Bier verabschiedeten. Es gab sogar die Möglichkeit, sich massieren zu lassen und was zu essen. Trotz aller Widrigkeiten hat mich diese Luxus RTF, wie ein Redakteur der Tour im April oder Mai 2019 schrieb, komplett begeistert. Anders als in Deutschland sind wirklich alle großen Kreuzungen gesperrt bzw. es steht jemand da, der den Verkehr regelt. Die Pfeile sind nicht zu übersehen. Es gibt eine Streckenübersicht für das Oberrohr, große Schilder zu Beginn und Ende der Steigungen und Kopfsteinpflasterpassagen, und tatsächlich passiert man immer wieder legendäre Streckenabschnitte. Macht Euch selbst ein Bild. Es lohnt sich.