Der niederländische Journalist, Autor und Radsportexperte Benjo Maso beschreibt in seinem lesenswerten Buch „Der Schweiß der Götter“ wie die zunehmende Liveberichterstattung mit Kamerawagen, Helikoptern u.ä. die Wahrnehmung des Profiradsports sichtlich veränderte. Waren es zuvor die Journalisten genau jener Zeitschriften, welche viele der heute weltbekannten Rennen und Rundfahrten erst erfanden, die Fahrer in den Himmel lobten, klein machen konnten und Mythen nährten, so konnte sich dank bewegter Bilder nun jeder sein eigenes Bild vom Rennverlauf und den Leistungen der Fahrer machen. Dies führte unter anderem zu der bemerkenswerten Erkenntnis, dass ein Eddy Merckx in Bestform die Dramatik eines Renntages für die Fernsehzuschauer sogar entdramatisierte, weil er alle Gegner in Grund und Boden fuhr. Genauso wie das Fernsehen den sprichwörtlichen „Radio Star“ gekillt hat, wurde es schwieriger, Mythen zu erfinden und aufrechtzuerhalten. Eine immer besser werdende medizinische Forschung hat seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts dazu beigetragen einen weiteren Aspekt des Radsports zu entmystifizieren. Aber davon soll hier nicht die Rede sein, denn es geht hier um einen anderen Mythos. Die legendäre Hölle des Nordens.

Neben der Tour de France kennt vermutlich jeder halbwegs sportinteressierte Mensch das Radrennen durch den Norden von Frankreich. Paris-Roubaix wird eine Woche nach der Flandern Rundfahrt ausgetragen und ist für viele trotz anderer berühmter Rennen, wie Mailand-San Remo, der Ronde, oder La Doyenne der Höhepunkt der Frühjahrsklassiker. Das Rennen wird vor den Toren Paris in Compiégne gestartet und geht mitten hinein in eine Einöde aus postindustrieller Versehrtheit, über endlose von gnadenlosem Wind gepeitschte Felder und durch kleinen Orte, deren ärmliche Häuser sich vor der Kulisse verwaister Kohlekraftwerke wie zum Trotz an den einsamen Straßen zusammen gedrängt haben; ein Rennen, das zu großen Teilen über uralte, von schweren Landmaschinen und klirrenden Wintern gezeichnete, Wirtschaftsstraßen mit gnadenlosem Kopfsteinpflaster ausgetragen führt. Nur zwei Deutsche haben es bis heute geschafft, dieses Rennen zu gewinnen. Zwar gelang dieser Husarenstreich gleich bei der Erstaustragung 1896 einem gewissen Josef Fischer, aber bis John Degenkolb 2013 die begehrteste aller Radsporttrophäen, den Pflasterstein, in die Höhe recken durfte vergingen viele Jahre. Ersannen wurde das Rennen von Paris nach Roubauix, ins Herz Kohlereviers rund um Lille an der belgischen Grenze, von zwei findigen Industriellen, Théodore Vienne und Maurice Pérez, die am Fahrrad- und Sportboom des ausgehenden 19. Jahrhunderts profitieren wollten. Aus demselben Zeitgeist, aus dem die olympische Bewegung von Baron Pierre de Coubertin aus der Taufe gehoben wurde, sprossen Velodrome allen Orts aus dem Boden. Rennen wie Bordeaux-Paris oder Paris-Brest-Paris erfreuten sich großer Beliebtheit. Warum also nicht ein Rennen zum neugeschaffenen Velodrome nach Roubaix? Die Journalisten von Le Velo waren von der Strecke, die sie mit einem Auto zurücklegten, so schockiert, dass die Idee eines derartigen Rennens ihre Unterstützung fand, denn Radsportler, die eine solch unzumutbare Route bezwingen können, können zu Legenden werden.  Und so lebt dieser Mythos bis heute. 

Neben dem Profirennen gibt es am Tag vorher die Roubaix Challenge. Amateursportler aus aller Welt machen sich auf nach Nordfrankreich um den Pavé Sektoren (wie die Kopfsteinpflasterpassagen im Original heißen) ihre Referenz zu erweisen und dem Mythos nachzuspüren. Im April 2019 machten wir uns ebenfalls auf den Weg. Leider war unsere kleine Radsportgemeinschaft vom Niederrhein arg dezimiert, da Helmut im Familienurlaub weilte und Tom sich einige Wochen vorher bei einem unglücklichen Trainingssturz verletzt hatte. Dies hinderte ihn jedoch nicht, Ralf und mich zu begleiten. Er machte das Beste daraus und verbrachte ein Shopping – und Paris Wochenende mit seiner Tochter. Nachdem wir aufgrund des unvermeidbaren Staus auf dem Antwerpener Ring zu spät in Roubaix ankamen, um uns noch zu registrieren, suchten wir zunächst unsere Bleibe, das B&B La Maison Bleue, unweit des Bahnhofs auf. Nach einigem Warten öffnete uns die Wirtin mit einer „Fahne“, die dem Namen der Unterkunft alle Ehre machte. Das Gemäuer, dessen Charme sich erst auf dem zweiten Blick zeigte, hielt allerlei Überraschungen, wie eine Toilette auf dem Flur, eine einzelne Bettdecke für zwei und viel abgeplatzten Putz, sowie die Perspektive am nächsten Morgen möglicherweise ohne Brot zu frühstücken, da der Bäcker um die Ecke erst später als unsere geplante Startzeit aufmachen würde. Nach einigem Hin und Her wurden wir uns mit Madame einig, konnten gegenüber des trotz der ansonsten recht prekären Szenerie sehr schönen Hotel de Ville, ein nettes Lokal finden, um uns vor dem Ritt durch die Hölle zu stärken. Dabei orientierten wir uns eher an der klassischen Ernährungsweise. Es gab Entrecote Frites und dazu ein Bier. 

Nach einem Frühstück, zu dem es auch Brot gab und einer leicht verschlafenen, aber zunehmend herzlicheren Madame, fuhren wir auf unseren Rädern durchs kalte und weitgehend verwaiste Roubaix. Je näher wir jedoch an das Velodrome, wo die Challenge für uns begann, kamen, desto mehr Rennradfahrer aus aller Welt und jeglicher Couleur bevölkerten die Straßen. Und nicht nur Rennräder, sondern auch Mountainbikes, Fat Bikes, Fixies und Retrobikes wurden genutzt, um sich der Aufgabe zu stellen.

Wir hatten uns gegen einen Start in Busigny entschieden, der es uns ermöglicht hätte, alle Sektoren der Profistrecke abzufahren, da wir den logistischen Aufwand mit einem Bustransfer um fünf Uhr scheuten. Da die Temperaturen auch um kurz vor acht noch am Gefrierpunkt lagen, bedauerte ich diese Entscheidung nicht; Noch weniger, nachdem ich von zwei Spaniern in unserer Unterkunft erfuhr, dass es in Busigny Verzögerungen beim Start gegeben hat, die dazu führten, dass etliche Fahrer bei eisiger Kälte in dünner Lycrawäsche fast eine Stunde warten mussten. Unser Start hingegen verlief mühelos. Tom hatte sich dankenswerter Weise aus dem Bett gepellt und unsere Startnummern besorgt, so dass wir direkt losfahren konnten. 

Die ersten ca. 65km der mittleren, insgesamt 145km langen Route mit ca. 35km Pave Sektoren, führte uns zunächst nach Süden. In einer Gruppe aus ca. 20 Fahrern ging es bei gemütlichem Schnitt durch kleinere Ortschaften Richtung Valenciennes. In Saméon, der ersten Verpflegungstelle stärkten wir uns kurz, erleichterten unsere Kleidung etwas, da die Sonne sich nun langsam gegen den Nachtfrost durchzusetzen wusste. Eine Gruppe dänischer Fahrer in originaler Molteni Wollkleidung und den entsprechenden Rennmaschinen aus den 70er Jahren weckte nicht nur unsere Aufmerksamkeit. Ralf, der am Wochenende zuvor bereits die Jedermann Ronde absolviert hatte zeigte sich überrascht über das moderate Tempo der meisten Fahrer. Ich vermutete, dass es Respekt vor der kommenden Aufgabe sei. Als nach einer Weile die Straße zunehmend an einem Wald entlangführte, dessen Baumkronen von zarten Frühjahrsknospen in mattem Grün getüncht waren und auf den Straßenschildern der Ortsname Wallers immer näherkam, wurde mir jedoch auch langsam mulmiger zumute. Begann doch unsere Route mit einer der größten Prüfungen des Rennens, dem sagenumwobenen Trouée de Arenberg. Der Arenberg „Trench“ (Schützengraben), wie er in englischer Sprache heißt, ist eine fast geradlinige Schneise, welche zunächst leicht bergab quer durch ein Naturschutzgebiet führt. Dieser Sektor ist einer von drei Sektoren der schwierigsten Stufe und ist mit fünf Sternen gekennzeichnet. Diese Kennzeichnung trägt er, wie ich schnell merkte zu Recht. Konnte sich Ralf eingangs des Waldes noch an einer deutlich langsameren Fahrergruppe vorbeischlängeln, so musste ich fast auf null runterbremsen. Warum in jedem Ratgeber zum Bezwingen von Kopfsteinpflaster steht, man solle ein hohes Tempo wählen, war sofort klar. Je langsamer meine Geschwindigkeit wurde, je mehr merkte ich die Schläge am ganzen Körper. Anders als die flämischen, weitgehend regelmäßig verlegten Kopfsteine oder gar in einer deutschen Altstadt wie Kleve, Münster oder Marburg, standen die riesigen Steine kreuz und quer, zum Teil wie gekenterte Schiffe mit dem Kiel nach oben, zum Teil fehlten sie ganz. Das Vorderrad gerierte sich wie ein störrisches Pferd, dem ich immer mehr Zügel geben musste und den Griff lockerte, was auch die richtige Entscheidung war. Vor mir stiegen die ersten Fahrer schon aus der Pedale. Um nicht selbst anhalten zu müssen, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und wich nach links aus und trat am Rande der Passage, die zur Seite auch leicht abschüssig war, ordentlich in die Pedale. Die Ideallinie auf der Krone des welligen Untergrundes war zwar nicht wirklich hart umkämpft, wie bei den Profis, aber trotzdem musste man gut aufpassen zwischen anderen, die alle mit sich selbst zu tun hatten. Nachdem der tiefste Punkt erreicht war ging es wieder leicht bergauf und das schwarze Banner, welches das Ende des Sektors markierte, kam zunehmend in den Blick. Und so war es dann geschafft. Ralf wartete am Ausgang des Waldes und ein Lächeln so wie ein gewisser Stolz überkam mich. Arenberg ohne Panne und Sturz gemeistert. Das sollte doch ein gutes Omen sein. Dazu wurde das Wetter immer freundlicher. Zwar war es kühl, aber die Sonne strahlte an zartem Frühjahrsblau und weit und breit kein Zeichen von Niederschlag, vor dem ich mich im Vorfeld am meisten gefürchtet habe; wenn auch die Bilder dann besser gewesen wären.

In enger Abfolge durchmaßen wir danach die nächsten Sektoren. Wie im Zick-Zack-Kurs ging es vorbei an ikonischen Orten, wie der Pont Gibus, den Kühltürmen im Sektor Hornaing à Wandignies sowie der Windmühle eingangs des Sektors Templeuve-Moulin-de-Vertain. Nur unterbrochen von einem Plattfuß der schnell geflickt war und einem Ausritt auf den Acker, als wir uns gegenseitig auf der Grasnarbe am linken Straßenrand behinderten, kurzen Schrecksekunden, wenn wieder mal ein unbedachter Mitfahrer die z.T. mit Bergen von Rollsplit aufgefüllten Kurven schnitt, eilten wir zunehmend selbstbewusster dem Zielort entgegen. Die Wohnwagenparade an den zentralen Abschnitten wie Mons-en-Pévèle und vor allem dem Carrefour de l’Arbre hatte bereits Platz genommen und vereinzelt kamen wir auch in den Genuss den einen oder anderen Anfeuerungsruf zu hören. Und ehe wir uns versahen, fuhren wir auch schon dem Velodrome am Stade Jean Stablinski entgegen. Zwei drei, enge Kurven, das Vereinsheim des Radclub Roubaix auf der linken Seite, scharf rechts hinein in die Radbahn und schon rollte ich in die überraschend steile Kurve und dem Ziel entgegen, wo uns eine Medaille und ein Zielphoto erwarteten. Glücklich und stolz beendeten wir den Nachmittag bei Musik, Burger, Bier und Fachgesprächen mit Schweizern, Neuseeländern und Amerikanern. Abgerundet wurde dieser unvergessliche Radsporttag durch einen Besuch in der nicht minder ikonischen Waschkaue des Velodrome und einem ausgiebigen Kneipenbesuch am Abend.

Während Tom am nächsten Morgen nach Paris aufbrach, statteten wir Lille einen Besuch ab und verbrachten den Nachmittag wieder im Velodrome, wo wir das Rennen per Großbildleinwand verfolgen konnten und sogar beinah noch einen deutschen Sieg hätten erleben können, als Nils Politt vom Team Katusha Alpecin nur dem abgezockten Ex-Weltmeister aus Belgien, Pierre Gilbert, den Vortritt lassen musste. Was wäre das für ein Sahnehäubchen gewesen mit der deutschen Nationalhymne im Ohr die Heimreise anzutreten.

Welch ein grandioses Wochenende. Welch ein Erlebnis. Aber…und nun nehme ich Bezug auf den Titel dieses Artikels, die Anspielung auf den zweiten Teil der beliebten Star Wars Filme: Leider trage ich eine Ansichtskarte aus der Hölle des Nordens in Form von Beschwerden an der Halswirbelsäule mit mir rum. Der Mythos schlägt zurück. Er lässt sich nicht ganz bezwingen. Und trotzdem oder gerade deshalb möchte ich eigentlich nochmal zurück.